02.10.2012
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Bericht zur Podiumsdiskussion
Mit den Hintergründen der so genannten Schweinegrippe und der H1N1-Pandemie, die dann keine war, hat sich eine hochrangige Podiumsrunde am 6. September in der Charité beschäftigt. Gast war Dr. Peter Doshi von der Johns Hopkins University in Baltimore (USA), der als Mitarbeiter der Cochrane Collaboration die Entscheidungskette, die zur Ausrufung einer Pandemie und den darauf folgenden weltweiten Einsatz von Tamiflu führte, genau untersucht hat. Mit Doshi zusammen diskutierten Professor Gerd Antes (Deutsches Cochrane Zentrum Freiburg), Dr. med. Günther Jonitz (Präsident der Ärztekammer Berlin), Dr. med. Wolfgang Wodarg (Transparency International Deuschland) und Moderator Dr. med. Peter Tinnemann (Charité). Besucht wurde die Veranstaltung von einem illustren Publikum, u.a. der ehemalige Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Dr. med. Johannes Löwer, der Münchener Medizinjournalist Werner Bartens sowie eine Vertreterin des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm), das für die Tamiflu-Zulassung in Deutschland in die Kritik geraten war.
Peter Doshi brachte es gleich zu Beginn seines Vortrages auf den Punkt: Die Schweinegrippe-Krankheitsfälle im Jahr 2009 waren keine Pandemie. Dies machte Doshi anhand der Zahlen der Influenza-Pandemien des vergangenen Jahrhunderts und den aus ihnen resultierten Todesfälle deutlich. Im Anschluss zeigte der US-Wissenschaftler auf, wie es trotzdem zur Ausrufung einer Pandemie durch die WHO kommen konnte. Die positive Bewertung von Tamiflu geht demnach vor allem auf eine Arbeit aus dem Jahr 2003 zurück, in der ein Forscherteam um Laurent Kaiser, der heute in Genf forscht, zehn klinische Studien analysiert hatte. Ergebnis: Die Einnahme von Tamiflu senke bei Influenza-Patienten die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhausbehandlung um über 50 Prozent. Wie die Cochrane Colloboration herausfand, standen vier der sechs Autoren des Kaiser-Papiers allerdings im Dienste des Pharmaherstellers Roche. Acht der zehn untersuchten Studien wurden zudem nie veröffentlicht. Mehrere Aufforderungen an Roche, die Daten zugänglich zu machen, wurden bis heute nicht befolgt. An der vom Hersteller gepriesenen positiven Wirkung von Tamiflu bezüglich Dauer und Schwere der H1N1-Infektion gibt es daher inzwischen massive Zweifel. Trotzdem kauften Regierungen weltweit millionenfach das Mittel ein. Für Roche ein Milliardengeschäft.
Für Wolfgang Wodarg war dies eindeutig eine "gefakte Pandemie". Seine Sicht war wenig optimistisch: Das weltweite Gesundheitssystem werde vom Finanzsystem geformt, oder drastischer ausgedrückt: Ärzte würden vielfach gekauft, um Studienergebnisse im Sinne der Pharmaindustrie zu liefern. Die anderen Diskussionsteilnehmer sahen dieses Problem zwar auch, waren aber weniger kulturpessimistisch. Kammerpräsident Jonitz erläuterte das Dilemma, in dem viele Ärzte stecken: Nämlich von ihrer Profession aus darauf gepolt zu sein, etwas tun zu wollen, gleichzeitig aber teilweise dem Glauben an Autoritäten verhaftet zu sein. "Aber der Skeptizismus steigt", zeigte er sich überzeugt. An evidenzbasierten Informationen als Grundlage für rationale Entscheidungen komme man jedenfalls nicht vorbei. Entscheidend sei aber: "Wir müssen einen besseren Zugang zu Daten bekommen", betonte Jonitz. Dies ist ebenfalls die Mission von Gerd Antes, der sich mit dem Deutschen Cochrane Zentrum zur Aufgabe gemacht hat, "sauberes Wissen" zu liefern. Leider komme dies nicht immer bei den Ärzten an. So drehte sich dann die Diskussion um die zwei zentralen Fragen: Wie kommt man an die notwendigen evidenzbasierten Informationen? Und wie gelangen diese dann zum Arzt? Die Runde konnte darauf sicherlich keine abschließenden Antworten liefern, legte aber bei vielen Punkten die Finger in die Wunde - was bei dieser komplexen Thematik schon eine ganze Menge ist.